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Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sind ungefähr so viele russische Soldaten tot oder kaputt, wie vor einem Jahr zur „militärischen Sonderoperation“ angetreten sind. Wofür? Präsident Putin erklärt es, wieder und wieder: für die Wiederherstellung eines intakten russischen Vaterlands; und für die Sicherheit der Nation als strategische Macht gegen ihre existenzielle Bedrohung durch die NATO. Im Westen wird beides als absurd zurückgewiesen; nicht mit Argumenten, sondern von dem festen Standpunkt aus, diese Begründungen wären nichts als Rechtfertigungen, die erst gar keine ernsthafte Befassung verdienen.
Ach wenn es nur das wäre! Beim Wort genommen, sind es klare Offenbarungseide darüber, was „Vaterland“ und „strategische Macht“ für monströse Imperative sind.
Nach dem ersten Kriegsjahr ist die Ukraine verwüstet; einen beträchtlichen Bevölkerungsanteil hat die Regierung ihrem Kampf gegen die russische Invasion geopfert. Wozu? Präsident Selenskyj erklärt es täglich: Ohne standhaftes Töten und Sterben gäbe es die Ukraine als selbstständigen Staat nicht mehr. Das gilt als unbedingt anzuerkennende Rechtfertigung aller Opfer, als das Nonplusultra eines gerechten Kriegsgrunds.
Und so viel stimmt daran: Der Held der nationalen Verteidigung offenbart, was für eine monströs mörderische Angelegenheit die Herstellung, Wahrung und Rettung einer veritablen Nation ist. Mit dem Vorwurf des „Völkermords“ an die russische Adresse betont er noch eigens, dass die Bewohner seines Herrschaftsgebiets ihre Lebensbestimmung genau darin haben, als Volk vollständig unter die von ihrer Herrschaft definierte „nationale Identität“ subsumiert zu sein.
Nach einem Jahr „Zeitenwende“ registriert der Westen die Kosten seines Einsatzes gegen Russland in der Ukraine: den Schaden für das Wirtschaftswachstum, den er organisiert hat; den absehbar langfristigen Aufwand für Waffen und die Fiktion eines ukrainischen Staatshaushalts; die Fluchtbewegung, die er managt; auch Schäden und Leichen auf ukrainischer Seite kommen vor in der Bilanz. Wofür das alles? Die Zuständigen können es gar nicht oft genug erklären: Mit der Gewalt, die sie mobilisieren, retten sie die europäische und überhaupt die globale Friedensordnung . Was für ein edler Grund!
Auch das: Was für ein Offenbarungseid! In der Staatenwelt für Ordnung sorgen ist eine Sache, die der Westen sich nicht nehmen lässt. Nötig ist dafür ein Monopol auf den Einsatz kriegerischer Gewalt , das ohne den rücksichtslosen Einsatz überlegener Militärgewalt gar nicht zu haben ist. Mit Rücksicht nur darauf, dass die Kosten, der Verschleiß, die fälligen Menschenopfer möglichst allein von anderen zu tragen sind.
Schließlich: Seit einem Jahr beteuern die Macher des Ukraine-Kriegs allesamt unablässig, dass ihre Kriegsbeteiligung unbedingt notwendig ist. Warum? Weil die jeweils andere Seite sich in böser Absicht an dem heiligen Gut vergreift, für das man selbst in den Krieg zieht. Jeder re agiert nur auf eine nicht hinnehmbare Bedrohung, eine brutale Aggression.
Und wenn es tatsächlich so ist? Nämlich so, dass für jede Partei ihre vitalen Staatsinteressen mit denen der Gegenseite unvereinbar sind ? Alle Gegner berufen sich auf einen Sachzwang zum Kriegseinsatz, auf ein absolut unverzichtbares Recht darauf, und offenbaren damit tatsächlich das eine: die Unvereinbarkeit der Räson, der sie als Militärmächte folgen – also von Inhalt, Sinn und Zweck dessen, was ihre Nation, ihre Weltmacht, eine ihnen gemäße Weltordnung ausmacht –, mit der entsprechenden Räson ihres Feindes.
Die Notwendigkeit des Ukraine-Kriegs, die sie beschwören, ist ihr guter Grund, über Leichen zu gehen. Was auch sonst: Sie wären ja nicht die verantwortlichen Exekutoren der existenziellen Interessen ihres Herrschaftsgebildes, wenn ihnen die unbedingte Affirmation dieser Interessen nicht absolut selbstverständlich wäre. Das unbedingte professionelle Ja zum Rechtsanspruch auf rücksichtslose Durchsetzung des nationalen Daseinszwecks mit aller verfügbaren Gewalt ist die Prämisse ihres Amts und das Prinzip des dazu erforderlichen falschen Bewusstseins, nämlich des patriotischen Verantwortungsbewusstseins, mit dem sie es ausüben. Umgekehrt: aus den guten Gründen, die die kriegswilligen Macht- und Befehlshaber für ihre Militanz geltend machen, ist auf die wirkliche Notwendigkeit des Krieges, seinen Grund in der imperialistischen Natur der engagierten Mächte zu schließen. Dann versteht man auch die überwältigend zynischen Berechnungen besser, die von den Präsidenten und Kanzlern und ihren Strategen angestellt und im Kriegsverlauf umgesetzt werden – und erspart sich falsches Verständnis wie ebenso verkehrtes Unverständnis.
Darum bemüht sich die Zeitschrift GegenStandpunkt in sämtlichen Ausgaben seit Beginn des Krieges. Die Nummer 1-23 setzt das fort mit einem Artikel zur Antwort des Westens auf die Phase der Kriegsführung, die die russische Seite im Herbst eröffnet hat.